Groß, schwer oder klein: Fahrräder abseits der Norm
Riesen-Rad und Mini-Bike: Fahrräder abseits der Norm
Groß, schwer oder klein: Fahrräder abseits der Norm
in Service
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Anfang der 90er Jahre absolvierte ich mein Volontariat bei einer Münchner Agentur, und ich erinnere mich noch gut an den ersten Betriebsausflug per Rad. Wir trafen uns am Haus der Kunst, am Eingang zum Englischen Garten. Irgendwann rollte der Chef, stolze zwei Meter sieben groß, mit seinem neuen Mountainbike zur Gruppe. Großes Gelächter war die Folge: Obwohl er auf einem 62 Zentimeter hohen Rahmen saß, der größte, den er hatte finden können, sah er aus wie der sprichwörtliche Affe auf dem Schleifstein.
Die kleinste Mitarbeiterin der Agentur, gerade mal gut einen Meter fünfzig groß, hatte dagegen mit anderen Probleme zu kämpfen: Zwar saß sie auf ihrem Mini-Rahmen einigermaßen vernünftig – die Bremsen konnte sie aber mit ihren kleinen Händen nur unter Mühen stärker betätigen. Trotzdem ist es ein sehr lustiger Ausflug geworden, und da wir nicht allzu lange und weitgehend flach bis zu einem schönen Biergarten an der Isar im Münchner Norden unterwegs waren, hatten weder Groß noch Klein Probleme auf der Fahrt.
Da ich damals auch als Journalist in Sachen Fahrrad unterwegs war, hatte ich recherchiert, was an sehr großen und sehr kleinen Rädern so am Markt zu finden war. Schnell wurde dabei klar, dass die Bedürfnisse von Fahrern, die deutlich aus der Norm fallen, eigentlich nur mit Maßrahmen wirklich zufriedenzustellen waren – zu entsprechenden Kosten. Keiner der bekannten Hersteller hatte Rahmen im Programm, die größer als 63 Zentimeter oder kleiner als 45 Zentimeter waren.
Seitdem sind viele große und kleine Kiesel die Isar hinuntergerollt, und auch am Radmarkt hat sich einiges getan, wenn es um sehr große, sehr kleine und sehr schwere Fahrer geht. Ein Extrem-Beispiel ist das Projekt „DirtySixer“, das derzeit auf der Crowdfunding-Plattform Indiegogo um weitere Finanzmittel wirbt. Das Besondere: „DirtySixer“-Räder rollen auf 36-Zoll-Laufrädern, also mit gut 20 Zentimetern mehr Durchmesser als die üblichen 28-Zöller. Gründer ist der Kalifornier David Folch, zwei Meter sechs groß, der nach einem Sturz auf einem unpassenden, instabilen Rad mit mehreren Knochenbrüchen seine Genesung nutzte, um ein Bike für sehr große Menschen zu entwickeln.
Großer Spaß: XXL-Kleidung zum Radfahren
Der „DirtySixer“: 36-Zoll-Laufräder
Dabei stieß Folch auf den Rahmenbauer Walt Wehner aus Utah, ein Ex-Profi-Mountainbiker, der seit 2013 Bikes mit 36er Laufrädern baut – nicht nur für große Fahrer, sondern auch, um im Gelände noch besser über Hindernisse zu rollen. Folch nahm die Idee auf, und stellte 2015 sein „DirtySixer“ auf dem legendären „Sea Otter“-Bike-Festival in Kalifornien vor. Da konnte er gleich mal die Basketball-Stars Shaquille O’Neal (2,16 m) und Kevin Durant (2,09 m) für seine „DirtySixer“ begeistern, und mittlerweile sind ganze NBA-Teams wie Utah Jazz, Dallas Mavericks und Philadelphia 76ers auf den kalifornischen Riesen-Rädern unterwegs. Kürzlich präsentierte David Folch die neue Version seines Bikes, das nun vorne eine doppelte Scheibenbremse hat, um das in der Regel deutlich höhere Gewicht von sehr großen Fahrern besser zum Stand zu bringen – eine echte Neuheit im Fahrrad-Bereich, die es so bisher nicht gab. Es ist für Fahrer bis zwei Meter 30 gedacht. Auch eine E-Version wird später zu haben sein.
Ein großer Nachteil der großen Laufräder soll jedoch nicht verschwiegen werden: Sie sind richtig schwer, und das macht das Rad recht träge, vor allem in Kurven und beim Beschleunigen, weil sich das hohe Gewicht der Laufräder als rotierende Masse besonders auswirkt. Zudem steigt das Trägheitsmoment deutlich an, da das Hauptgewicht (Felgen und Reifen) viel weiter außen liegt; zusammen mit dem höheren Gewicht liegt das Trägheitsmoment von 36er Laufrädern verglichen mit 28-Zöllern bei mehr als dem doppelten Wert.
Zum nächsten, nicht ganz so „extremen“ Hersteller, der neben Rädern für Große auch ebensolche für besonders schwere Menschen produziert (was ja nicht selten zusammenkommt): Anruf bei Jan Schauff, Spross der Fahrrad-Dynastie Schauff, die Anfang der 60er erster Shimano-Importeur in Europa, und Anfang der 90er Pionier der vollgefederten „Therapie-Räder“ war. Im Herbst 2002, also vor fast 20 Jahren, hatte Schauff mit dem „Sumo“ das erste Fahrrad am Markt präsentiert, das bis 200 Kilogramm Gesamtgewicht zugelassen war – ein Klassiker und heute noch das meist verkaufte Modell im Programm des Herstellers aus Remagen am Rhein.
Frage an Jan Schauff: Was hat sich in den letzten 20 Jahren getan am Markt für XXL-Räder? „Es ist immer noch eine Nische, aber man findet mittlerweile doch einiges mehr für Fahrerinnen und Fahrer, die nicht ins DIN-Raster passen.“ Große Räder hätten heute mehr Reserven, um mit den stärkeren Belastungen zurecht zu kommen, meint Schauff, nicht zuletzt wegen der mittlerweile verfügbaren höher belastbaren Komponenten aus dem MTB-Downhill-Bereich. Er hat zwei wichtige Tipps für XXL-Fahrer: „Eine regelmäßige Wartung ist wegen der höheren Kräfte und Belastungen unverzichtbar, am besten jedes Jahr, mit einer gründlichen Inspektion. Und vor einem Kauf sollten mindestens drei verschiedene Modelle Probe gefahren werden. Bei XXL-Rädern ist ein direkter Vergleich noch wichtiger als sonst.“
Schwer in Ordnung: XXL-E-Bikes
Für den größten Menschen der Welt
Ein weiterer Produzent von „Big Bikes“ ist Utopia Velo. Die Saarbrücker haben dem einst größten Menschen der Welt, dem 2,42 Meter großen russischen Basketball-Profi Alexander Sizonenko zu einem passenden Zweirad verholfen. Das „London“, bei Utopia seit über 20 Jahren im Programm und ein Klassiker der XXL-Szene, hat eine serienmäßige Rahmenhöhe von stolzen 83 Zentimetern, ist zugelassen für bis zu 180 kg Gesamtgewicht. Doch selbst das war für den 2012 mit nur 52 Jahren verstorbenen „Big Alex“ zu wenig, Utopia schweißte ihm einen nochmal fünf Zentimeter höheren Spezial-Rahmen mit einem zweiten Oberrohr.
„Solche Räder lassen sich nicht mehr in herkömmlicher Bauweise herstellen“, erklärt Ralf Klagges, der Utopia vor 40 Jahren zusammen mit seiner Frau Inge Wiebe gegründet hat: „Mit dem verlängerten Steuerrohr wird aus dem dreieckigen Diamant-Rahmen zunehmend ein instabiles Viereck. Mit der Folge, dass der Rahmen flattert und schlimmstenfalls schlapp macht. Wir verbinden beim London das Steuerrohr mit einem zusätzlichen Querrohr mit dem Tretlager, so dass durch das Kreuz im Oberrohr viele kleine Dreiecke entstehen, die das Rahmengeflecht verstärken.“ Und der Rahmen darf nicht einfach nur höher werden, weiß Klagges: „Je nach Rahmenmaß muss auch der Abstand zwischen Tretlager und Hinterrad verändert werden, also der Hinterbau. Sonst würde ein großer Mensch irgendwann über der Hinterradachse sitzen.“
Von XXL zu XXS
Fliegender Wechsel von groß zu klein – doch die Anforderungen beim Rahmenbau bleiben bei sehr großen und sehr kleinen Rädern dieselben: Nicht nur die Rahmenhöhe, auch die Länge muss stimmen. „Die Rahmenhöhe ist ein überbewertetes Maß, vor allem bei Rädern mit nach hinten abfallendem Oberrohr“, sagt der Rahmenbauer Werner Juchem aus der Eifel: „Ebenso wichtig ist die Rahmenlänge, an der hängen viele geometrische Feinheiten. Als Erstes muss für kleine Menschen der Lenker näher zum Sattel.“
Doch mit der üblichen Laufradgröße 28 Zoll geht da nicht viel, weiß Juchem: „Wenn man den Rahmen einfach immer kürzer macht, stoßen irgendwann in engen Kurven die Füße ans vordere Schutzblech oder an den Reifen – gefährlich …“ Die Lösung: Laufräder mit 26 Zoll, wie früher an Mountainbikes (mehr dazu auf Seite 72 im Absatz „Laufräder“). Sie machen kompaktere Fahrräder möglich, ohne Probleme beim Manövrieren: Ein Rahmen mit 26-Zoll-Laufrädern kann fünf Zentimeter niedriger und über drei Zentimeter kürzer werden als mit 28-Zöllern.
Bei sehr kleinen Menschen kommt dazu: Auch die Lenkerbreite, die Bremsgriff-Weite, die Kurbel-Länge und die Sattelgröße sollten an die Körpermaße angepasst sein. Allerdings muss auch hier koordiniert vorgegangen werden. Kürzt man beispielsweise die Länge der Tretkurbel von den üblichen 170 Millimetern, um kleinen Menschen das Treten zu erleichtern, führt das zu Problemen. Etwa an der Ampel, wenn ein Fuß abgesetzt wird. Der Weg zum Boden wird weiter. Eine zu lange Kurbel wiederum beeinträchtigt die Sitzposition, vor allem den optimalen Kniewinkel, und damit wird es mühsamer, auch höhere Trittfrequenzen gut zu treten. Die Rahmen-Geometrie muss also insgesamt abgestimmt sein, auch auf die Komponenten.
Auch Komponenten müssen stimmen
Apropos Komponenten – also etwa Lenker, Griffe, Kurbeln, Sättel und Sattelstützen: Die bekannten großen Hersteller haben hier eher wenig für sehr kleine und auch sehr große Menschen im Programm. So bleibt kleinen Radfahrern oft nichts anderes übrig, als bei Kinder- und Jugendrad-Herstellern wie Woom oder VPace nachzufragen. Wer in der schweren Fraktion unterwegs ist, sollte sich Komponenten aus dem Mountainbike-Downhill-, Tandem- oder Reiserad-Bereich ansehen: Die sind auf besonders hohe Belastungen wie etwa bei großen Sprüngen, viel Gepäck ausgelegt. Auch Tandem-Komponenten, etwa von Santana, sind deutlich stabiler als Normware. Verdient gemacht haben sich bei Anbauteilen vor allem die Hersteller Syntace, Ergotec, Newmen und SQlab. Sie arbeiten mit Prüflaboren zusammen, lassen ihre Produkte zertifizieren und setzen die Standards mit Blick auf Stabilität und Haltbarkeit immer weiter nach oben.
Die Komponenten sind auch für Utopia-Chef Ralf Klagges die Schwachpunkte an Rädern für Große und Schwere. „Besonders riskant ist es, die Sattelstütze zu lang auszuziehen, wie es oft passiert, wenn der Rahmen zu klein ist.“ Daher sei ein passender Rahmen vor allem für große, schwere Fahrer unverzichtbar – und dazu ein stabiler Vorbau und Lenker: „Das sind die nächsten beiden Komponenten, die am meisten bei hohen Belastungen gefährdet sind“, so Klagges. Utopia bevorzugt daher bei seinen XXL-Rädern London und Kranich „den guten alten Stahl“ für Lenker, Vorbau und Sattelstütze.
Die Sattelstütze
Die Sattelstütze ist laut Klagges immer dann in Gefahr, wenn sie mehr als 25 Zentimeter aus dem Sattelrohr ausgezogen wird. „Je flacher der Sitzwinkel ist, umso schneller kann die Stütze dann bei ständiger schwerer Belastung brechen. Und das kann dann recht schnell gehen, leider meist mit einem Sturz als Folge.“
Die Reifen
Wer schwer ist, sollte breite Reifen fahren – ein weiterer Rat von Ralf Klagges: „Breite Reifen sind höher belastbar. Und je breiter der Reifen ist, umso mehr Komfort wird möglich, da dann der Reifendruck niedriger sein kann.“ Klagges hat daher einen leicht umzusetzenden Tipp für schwere Fahrer, die mehr Komfort wollen: Sie sollten Reifen mit mindestens 50 Millimeter fahren. „An unseren Utopia-XXL-Rädern verbauen wir standardmäßig 55-Millimeter-Reifen. Noch besser: der Schwalbe Big Apple mit 60 Millimetern. Mit zwei Bar gefahren, bietet der eine tolle Dämpfung und verträgt bis zu 145 Kilogramm. Trotzdem rollt er gut und ist mit knapp 900 Gramm noch nicht mal besonders schwer.“ Ein weiterer wichtiger Tipp für „Big Biker“ kommt von Jan Schauff: „Regelmäßig den Luftdruck checken! Das ist bei großen, schweren Menschen auf dem Rad noch wichtiger als sonst. Wenn ein Hundert-Kilo-Mann permanent mit deutlich zu wenig Luft unterwegs ist, da kann durchaus mal ein komplettes Hinterrad in einer scharfen Kurve in die Knie gehen, mit entsprechend unschönen Folgen.“
Die Laufräder
Von den Reifen zu den Laufrädern: Sie sind Dreh- und Angelpunkt des Fahrrads. Wer kleiner als einen Meter 60 ist, sollte statt 28-Zoll-Laufrädern 26 Zoll Durchmesser wählen. Der Rahmen wird damit nicht nur kompakter, sondern auch stabiler: Ein sehr niedriger Rahmen hat mit 28-Zoll-Rädern ein sehr kurzes Steuerrohr, das macht das Vorderrad instabiler. Sind die Laufräder zwei Zoll, also fünf Zentimeter kleiner, kann das Steuerrohr entsprechend länger werden. Und, fast noch wichtiger: Das Oberrohr kann tiefer angesetzt werden und so wird der Rahmen wirklich klein.
Wer wegen seines hohen Gewichts immer wieder Probleme mit den Laufrädern hat, kann hinten ein stabileres Laufrad als vorne verwenden. Die Hauptbelastung liegt nämlich immer auf dem Hinterrad. Treten regelmäßig Probleme auf, sollte man über einen handgebauten Laufradsatz von einem spezialisierten Laufradbauern nachdenken. Das kostet zwar mehr Geld, lohnt aber auf Dauer – wegen der höheren Stabilität und bester Haltbarkeit. Bei den Felgen sind Modelle mit Hoch- oder V-Profil, bei sehr hoher Belastung auch Downhill-, Reiserad- oder Tandem-Felgen sinnvoll. Weiterhin sollten verstärkte Speichen (z. B. DT Swiss Alpine III oder Sapim Strong) zum Einsatz kommen, der stark belastete Speichenbogen ist hier dicker und damit haltbarer. Ansonsten ist es ratsam, auf mindestens 32, noch besser 36 Speichen zu setzen.
Bei den Speichennippeln sollte nicht das übliche Aluminium, sondern Messing verbaut werden. Gut für Stabilität und Haltbarkeit sind zudem große, weit auseinander liegende Nabenflansche, wie man sie etwa an Naben-Dynamos und Getriebenaben findet. Bei Karbon-Felgen ist in Verbindung mit Felgenbremsen Vorsicht gefragt: Bei starkem und lang anhaltendem Bremsen können die Felgen an ihre thermische Grenze kommen, da Kohlefaser nur wenig Wärme aufnehmen kann. Die Felgen erhitzen immer mehr und die Bremskraft nimmt ab. Im schlimmsten Fall kommt es zur Delamination, also zur Auflösung der Matrix aus Harz und Kohlefaser, und damit zum Totalausfall. Wer auf Karbon nicht verzichten will, der sollte auf jeden Fall das zulässige Gesamtgewicht der Laufräder einhalten – und besser Scheibenbremsen wählen.
Die Bremsen
Schwere Fahrer sollten Felgenbremsen nur in Kombination mit robusten Alufelgen verwenden. Wer beim Bremsen weniger Kraft aufwenden will, wählt hydraulische Felgenbremsen, etwa die HS-Modelle von Magura. Spielt das Budget keine Rolle, empfehlen sich Scheibenbremsen. Die Vorteile: In Verbindung mit großen Bremsscheiben braucht man nur geringe Handkräfte für höchste Bremskraft. Zudem ist der Bremskraftverlust bei Nässe nur sehr gering. Wer besonders schwer, lange Strecken bergab oder mit viel Gepäck unterwegs ist, wählt eine 4-Kolben-MTB-Scheibenbremse. Sie hat deutlich mehr Power und eine bessere Standfestigkeit bei Dauerbremsungen.
Zu den Bremsscheiben: Vorne sollte je nach Gesamtgewicht mindestens eine 180-Millimeter-Disc verbaut sein. Wer deutlich über hundert Kilo wiegt, wählt besser 203 Millimeter, vorne und hinten! Ein weiterer Tipp sind bis zu 2,3 Millimeter dicke Bremsscheiben aus dem E-Bike oder Downhill-Bereich (Magura, TRP). Sie nehmen viel mehr Wärme auf, halten die Bremsleistung länger konstant und schonen Bremssystem und -belag.
Wichtig für kleine Radfahrer: Die Bremsgriffe müssen in der Griffweite einstellbar sein, damit sie auf kleine Händen anzupassen sind. Bremskraftbegrenzer, die zu starkes Bremsen und damit einen Sturz verhindern sollen, sind für kleine Radler nicht ratsam: Die Griffweite der Bremsgriffe muss nicht selten so klein eingestellt werden, dass mit einem Begrenzer die volle Bremswirkung nicht mehr erreicht werden kann – gefährlich in Notsituationen und auf längeren, steilen Abfahrten. Ohne Begrenzung kann man es dagegen auch als Kleiner beim nächsten Betriebsausflug den Großen beim Downhill mal so richtig zeigen …