E-Bikes selbst konfiguriert: Individualisierbare Fahrräder im Trend
Nicht ein Fahrrad - DEIN Fahrrad: Der Weg zum selbst konfigurierten E-Bike
E-Bikes selbst konfiguriert: Individualisierbare Fahrräder im Trend
in Service
Anna Schulte sitzt an einem Schreibtisch, ihr gegenüber Ramona Schneider. Gemeinsam besprechen die zwei Frauen Anna Schultes neues Fahrzeug. Farbe, Ausstattungspakete, die verschiedenen Motoren und Komfortelemente. Welche Reifen kommen in Frage? Möchte Anna Schulte lieber selbst schalten oder bevorzugt sie eine Automatik? Alles Fragen, die Ramona Schneider mit ihrer Kundin bespricht, anschließend am Rechner in den Konfigurator eingibt. Am Ende haben die beiden das für Anna Schulte am besten passende Fahrzeug gefunden. So klar, so alltäglich. Doch Anna Schulte kauft kein Auto, sondern ihr neues Fahrrad.
Spätestens seit dem E-Bike-Boom hat es sich herumgesprochen, dass das Fahrrad ein ernst zu nehmendes Verkehrsmittel ist, kein reines Freizeitgefährt. Bike-Leasing und ein wachsendes Umweltbewusstsein fördern diese Entwicklung zusätzlich. Damit einher geht aber auch der Wunsch vieler Radfahrer, nicht einfach ein Rad von der Stange zu kaufen. Klar, die großen deutschen Marken bauen hervorragende Räder – das zeigt unser Großer ElektroRad-Test eindrücklich. Es gibt sie in unterschiedlichen Größen und Ausführungen. Und trotzdem kommt es immer wieder vor, dass etwas nicht passt. Sei es der Sattel, seien es die Griffe. Manchmal passt die Schaltung nicht zum Einsatzgebiet oder ist der Gepäckträger für die geplanten Radreisen nicht variabel genug. Dann beginnt das Experimentieren. Komponenten werden getauscht, Teile ab- und wieder drangeschraubt, nicht immer mit dem erhofften Ergebnis.
Hier setzen Hersteller an, die ihre Räder von vornherein individuell auf den Kunden zuschneiden. Poison aus Nickenich in der Nähe des Laacher Sees ist so ein Hersteller. Thomas Wiesel, Geschäftsführender Gesellschafter der Manufaktur aus der Eifel, ist überzeugt, dass diese Art des Radbaus Zukunft hat. „Die Anschaffung eines Pedelecs ist schon lange kein Spontankauf mehr. Käufer wägen genau ab, was sie brauchen und wollen.“ Statt von Fahrradladen zu Fahrradladen zu laufen auf der Suche nach dem passenden Rad, bauen sie sich ihr Fahrzeug nach ihren Wünschen und Vorstellungen selbst auf. Begleitet und beraten werden sie von Händlern wie Ramona Schneider im Fahrradladen oder direkt am Konfigurator im Internet. Auch dabei stehen dem Kunden Berater zur Verfügung, per Mail oder Telefon.
Das eine Rad fürs Leben: Konfigurierbare E-Bikes 2024 im Test
Selbst konfiguriert: Vier Billiarden Optionen
Das Prinzip ist so erfolgversprechend, dass viele klassische Radhersteller inzwischen Marken etabliert haben, die ebenfalls aufs Baukastenprinzip setzen. Andere setzen schon immer auf den so genannten Custom-Aufbau. Die Möglichkeiten des Anpassens variieren dabei. Das zeigt etwa das Beispiel HP Velotechnik, Liege- und Dreiradspezialist aus Kriftel bei Frankfurt. Für ihr Modell Scorpion fs20 ergeben sich in Summe unfassbare vier Billiarden Optionen, eine vier mit fünfzehn Nullen – theoretisch. „Das ist ganz einfache Mathematik, so ähnlich wie mit der Legende von den Reiskörnern auf dem Schachbrett“, sagt Alexander Kraft von HP Velotechnik. Denn natürlich müsse das niemand im Einzelnen durchgehen und alles mit allem kombinieren. „In der Realität verläuft der Entscheidungsprozess ja umgekehrt. Man wählt einen Sitz samt diversem Zubehör und einen Motor mit Schaltung – und wenn man dann noch sagt, ich brauche keine Reha-Pedale und keine Gepäckaufnahme, ist man schon bei nur noch wenigen hundert Kombinationen.“
Um es noch einfacher zu machen, gibt es bei den Hessen inzwischen auch die „Special Edition“-Modelle. Das sind vorkonfigurierte Räder mit einer reduzierten Anpassbarkeit. „Aber selbst da gibt es noch viele Optionen. Denn natürlich bieten wir auch da unser Zubehör für besondere Bedürfnisse wie Ergo-Pedale, Taschen oder Befestigungsmöglichkeiten fürs Smartphone oder Ähnliches an“, erläutert Kraft. Auf ein solches Prinzip der Basisversionen mit einigen möglichen Anpassungen setzt auch andere Hersteller, darunter etwa Contoura aus Niedersachsen.
Wichtig für den reibungslosen Ablauf und die Zufriedenheit der Kunden von Anfang an sei eine einfache Handhabung des Konfigurators. Sowohl HP Velotechnik als auch Poison investieren viel in ihre Online-Anwendungen. Die müssen sowohl für den potenziellen Käufer als auch den Händler nachvollziehbar, intuitiv und leicht zu bedienen sein. „Wichtig ist etwa, dass die Leute verstehen, warum eine Konfiguration dazu führt, dass sie im weiteren Prozess zum Ausschluss anderer Optionen führt. Das wollen die Menschen nachvollziehen können“, sagt Alexander Kraft. Ein einfaches Beispiel: Eine Nabenschaltung ist nicht mit einem Hecknabenmotor kompatibel. Ist eine Bestellung beim Hersteller eingegangen, wird das Wunschrad individuell und fast immer in Handarbeit montiert. Anhand der Bestellliste werden die Komponenten im Lager zusammengestellt, mit einer internen Kennung versehen und dann in die Produktion gegeben.
Bei Poison baut ein einzelner Zweiradmechaniker das Rad auf. Lediglich Vorarbeiten wie das Einspeichen der Laufräder und die individuelle Lackierung erfolgen vorab, aber ebenfalls vor Ort in Nickenich. HP Velotechnik bekommt die Laufräder fertig montiert geliefert. Die Lackierarbeiten übernimmt ein externer, hochspezialisierter Partner aus Usingen im Taunus. Anders als bei Poison baut bei HP nicht ein Mechaniker ein gesamtes Rad. An sieben Montagestationen entstehen die Liegeräder, die jeweiligen Monteure an den einzelnen Stationen sind auf einen Teil der Montage spezialisiert. „Das geht schneller als in der Einzelmontage. Und wird für die Monteure einfacher, da keiner mehr sämtliche Details beherrschen muss“, erklärt Kraft.
Hohe Qualitätsstandards
Hersteller der individuellen Konfigurationsräder wollen alle einen besonders hohen Qualitätsstandard erfüllen. „Unsere Käufer identifizieren sich mit ihrem Fahrrad. Sie verinnerlichen, dass es ihr eigenes, auf sie zugeschnittenes Bike ist. Entsprechend hoch ist ihr Anspruch an die Ausführung“, erklärt Thomas Wiesel. Poison-Käufer gingen durchaus kritischer mit der Verarbeitungsqualität um als Käufer von Standard-Fahrrädern. Daher nimmt sich ein Mitarbeiter jedes einzelne Rad vor der Auslieferung zur Endkontrolle vor, überprüft anhand einer Checkliste jede Komponente, zieht jede Schraube mit einem Drehmomentschlüssel nach und fährt abschließend eine Testrunde. „Wenn dabei auch nur eine Kleinigkeit auffällt, geht das Rad zurück an den Mechaniker, der es aufgebaut hat.“ Das zahle sich aus, es gebe so gut wie keine Reklamationen. „Beanstandungen gibt es bei deutlich unter einem Prozent aller Räder, die unsere Produktion verlassen“, so Wiesel.
Auch bei HP Velotechnik werden die Räder in der Montagehalle in Kriftel einer Endkontrolle unterzogen. Da sie aber ausschließlich über den stationären Handel verkauft werden, steht im Fahrradladen ein weiterer Check durch den Händler an. Bei der Übergabe erhält der Käufer außerdem eine umfangreiche Einweisung. Sollten dabei noch Fragen offenbleiben, ließen sich die meist vor Ort im Fahrradladen oder in Abstimmung mit HP beantworten.
Wie in der gesamten Branche, hat es in den vergangenen zwei, drei Jahren bei den Fahrrad-Manufakturen Lieferprobleme gegeben, vor allem aufgrund fehlender Komponenten. Inzwischen aber läuft die Produktion wieder rund. „Wir stehen aktuell bei einer Lieferzeit von etwa zwei bis drei Wochen“, sagt Alexander Kraft. Die Special-Edition-Modelle seien oft sogar sofort lieferbar.
So hat auch Anna Schulte inzwischen ihr Wunschbike gefunden. Als äußeres Zeichen hat sie ihren Namen und kleinere Grafiken auf dem Rahmen verewigen lassen. Auch das ist möglich. Sie ist rundum zufrieden mit ihrem fahrbaren Unikat in Handarbeit. Es ist tatsächlich ihr ganz persönliches Fahrrad.