Centurion im Firmen-Porträt: Die Geschichte des Fahrrad-Herstellers
Nur die Neugierde bewegt die Welten: Pate, Pionier & Passion
Centurion im Firmen-Porträt: Die Geschichte des Fahrrad-Herstellers
in Story
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Wolfgang Renner läuft an Fotos von Tibet, Fahrradbildern und seiner gerahmten Rennfahrer-Lizenz vorbei. Öffnet den Wandschrank, klappt Ordner auf. Stapelweise Studienarbeiten. Von fahrradbegeisterten Maschinenbau-Studenten, Berufsanfängern und Bewerbern, die der smarte, bald 72-Jährige während ihres Studiums gefördert hat und als jungen Talenten im Centurion-Team eine Chance gab. Einige sind noch heute dabei. Oder führende Produktmanager bei anderen Marken. Ja, Magstadt, westlich von Stuttgart, ist nicht nur Talentschmiede, sondern auch Wiege vieler Rad-Entwicklungen, die als richtungsweisend gelten.
Neugierde und Träume sind die Triebfedern von Wolfgang Renner, einst erfolgreicher Kunstradfahrer, später Crossrad- und Rennrad-Profi. Heute der führende Kopf hinter der schwäbischen Marke Centurion (hier geht’s zur Centurion-Website). „Mit meinem Technikkasten baute ich einen Detektorempfänger, mit dem ich glaubte, Flugzeugfunk empfangen zu können – wohl der Auslöser meiner Liebe zur Fliegerei. Bücher von Heinrich Harrer wie ‚Sieben Jahre in Tibet‘ oder ‚Die weiße Spinne‘ über den Eiger sind Auslöser meiner Liebe zu den Bergen. Oder den Traum, in Tibet einen 8000er zu besteigen.“
Centurion-Macher: „Nur die Neugierde bewegt Welten“
Und irgendwann hatte der taffe Macher dann die Mittel, durchquerte mit dem Rad den Himalaya, war mit dem Bike im 5000 Meter hohen Basecamp des Cho Oyu, den er mit einer Seilschaft bis 8100 Meter bestieg. 5 × Tibet, Pyrenäen, Transalp – er setzte und setzt zielstrebig all seine Träume um.
„Nur die Neugierde bewegt die Welten“, sagt er weise. Und nimmt uns mit – auf eine Zeitreise durch Centurion-Innovationen, die viele Fahrrad-Gattungen beflügelten. Und uns den Hut ziehen lassen.
Die Entwicklung der Centurion-Fahrräder im Bilder-Zeitstrahl
Die Historie von Centurion
Die Historie beginnt 1976: Renner befährt das Karwendel-Tal und holt sich auf den Pisten drei Platten. „Die Räder waren damals auf Straße gepolt“, erklärt er. Deutschland ist damals ein Land der Autos. Das Fahrrad hat so gut wie ausgedient. In den wenigen Radläden ist das Angebot trist, technisch reizlos, die Qualität mies.
1976: Um einen Kontrapunkt zu setzen, ruft Wolfgang Renner den Nowack Radsport-Vertrieb ins Leben. Und bereichert den Markt mit hochwertigen Rennrad-Rahmen der Marke Centurion. Bestückt mit Komponenten aus Japan. „Damals revolutionär“, lacht er. Denn die gab’s vorwiegend nur aus Frankreich und Italien.
1979: Die neue Sportart Bicycle-Moto-Cross (BMX) elektrisiert! Stabile, kleine Bikes, die spektakuläre Stunts aushalten, sind der Hit für eine rasant wachsende Schar von Begeisterten. Centurion liefert das komplette Zubehör. Renner selbst engagiert sich ehrenamtlich für den bundesweiten Bau von BMX-Bahnen. Und sorgt für die Aufnahme von BMX ins sportliche Angebot des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR).
Centurion in den Achtzigern
1980: Getrieben vom Gedanken, dass Deutschland reif ist für eine neue Generation von Fahrrad, die wirklich fürs Gelände taugt, fliegt der Schwabe nach Kalifornien. Um bei der Long Beach Show mehr über das Mountainbike zu erfahren, das selbst in den USA noch Geheimtipp ist. „Aber die Geometrie der Räder hat mich nicht überzeugt“, sagt Renner, skizziert ein Bike mit stimmiger Geometrie für extreme Einsätze und lässt in Japan einen Prototypen bauen.
1982: Während man in den USA noch intensiv über sportive Mountainbikes nachdenkt, erscheint in Deutschland das erste MTB unter dem Markennamen Centurion. Das „Country“ ist in Sachen Geometrie, Optik und Zubehör eindeutig auf den Einsatz abseits fester Wege ausgerichtet. Der Rahmen kommt von Tange aus Japan. Ebenso die gerade erst fürs MTB entwickelten Komponenten: Suntour liefert die Schaltung, die Teile Sugino, Sakae und Dia-Compe, die Reifen kommen von IRC.
900 km durch den Himalaya
1987 wird ein Traum wahr: Wolfgang Renner ist einer der ersten, die Tibet mit dem Fahrrad erkunden. „Von Lhasa nach Kathmandu. Ungefedert!“ Seine Augen leuchten. Und zeigt auf ein Bild: „Das war mein Rad. Ein auf Reisetauglichkeit getrimmtes Centurion Mountainbike, das anschließend unter dem Namen ‚Lhasa-Kathmandu‘ in Serie auf den Markt kam.“ Es besitzt Ösen an Rahmen und Gabel – für Gepäckträger, Lowrider, Flaschenhalter, Schutzbleche. Und „läuft problemlos 900 brutale Kilometer. Über drei Pässe. Jeder 5000 Meter hoch. Für Centurion war dieses Rad der Durchbruch im MTB-Bereich“, bilanziert der Macher rückschauend.
1989: Deutschland entdeckt das Mountainbike. Auch beflügelt vom neuen Fachmagazin „Bike“. In der Branche herrscht „Goldgräberstimmung“. Im Gegensatz zu den halbherzigen Ansätzen des europäischen Wettbewerbs, Bikes nur offroad-tauglich aussehen zu lassen, hat Centurion ein echtes MTB zu bieten. „Nur wollten unsere wenigen Händler da nicht mitziehen. Die favorisierten Billigmodelle wie die Konkurrenz.“ Um den Absatz anzukurbeln, schaltet der Schwabe Anzeigen in Magazinen und verkauft seine echten Mountainbikes über Karstadt-Filialen, die auch den BMX-Boom ins Rollen gebracht hatten.
Die Neunziger
Gerade als es in Magstadt wieder aufwärts geht, steigt die japanische Währung um heftige 40 Prozent. Weil sich das Produzieren in Japan nun nicht mehr lohnt, ist Renner gezwungen, einen neuen Rahmenbauer zu suchen. Und findet ihn in Italien. Beim selben Hersteller, der auch Pinarello beliefert, lässt Centurion seine hochwertigen Rennräder und Mountainbikes fertigen. Die günstigen Modelle kommen aus Taiwan.
1991: Aus „Nowack Radsportartikel KG“ wird „Centurion Renner KG“. Die Mountainbikes sind auch mit Shimano-Komponenten zu haben.
1993: Beim renommierten „European Bike Contest“ belegt Centurion Rang 2 – „für wegweisende Innovation im Fahrradbau“. Prämiert wird mit dem „1.4.3“ (one for three) ein Bike, das sich vom Rennrad zu einem geländetauglichen Mountainbike oder einem Reiserad umrüsten lässt.
1994 bringen die Schwaben ein für den Lang-Triathlon optimiertes Wettkampfrad mit revolutionärem Design: Im Sattel des „Overdrive“. erzielt Thomas Hellriegel beim Ironman auf Hawaii die schnellste bislang gefahrene Zeit auf der 180-km-Strecke. Ein Rekord, der fast ewig hält.
Ziel: Mountainbike ohne Jo-Jo-Effekt
Im Hintergrund werkelt das schwäbische Entwickler-Team an einem vollgefederten Mountainbike. „Bis dahin waren die Fullys als Affenschaukeln gefürchtet. Cannondale, Trek, GT und Mongoose setzten zwar die Trends. Wir aber tüftelten an einer neuartigen Schwingenlagerung. Auch um den gefürchteten Pedalrückschlag zu eliminieren. Geholfen hat uns die Fachpresse: Wir bauten genau das vollgefederte Bike, das sich die Zeitschrift ‚Bike‘ als ideales Fully vorstellte. Und nannten es ‚No Pogo‘.“
Der Erfolg kommt prompt: 1997 wählen die Leser des Magazins das „No Pogo Comp“ zum Bike des Jahres. Für Renner ist das „No Pogo“ „der Durchbruch auf dem Markt der vollgefederten Bikes“, für Branchenkenner ein Meilenstein bei Fullys. No Pogo wird Gattungsname wie Tempo bei Papiertüchern oder Uhu bei Klebern.
Höhenflug: Platz 1 für Trekkingbike
1997 jagt ein Höhenflug den nächsten. Beim European Bicycle Contest belegt ein Trekkingbike Platz 1: das Centurion „Cross Comfort“. Und ab geht die Post: „Cross Comfort“ und „No Pogo“ sind gefragt wie Hölle. „Aber wir konnten nicht liefern. Die Italiener kamen nicht nach.“ Renner kann gerade noch „ein Desaster“ vermeiden: Er findet in Taiwan einen Hersteller, der seinen Ansprüchen entspricht …
Pulverbeschichtung von Centurion
… und der auch Centurions neuartige Tauch- und Pulverbeschichtung aufbringen kann. „Eine schlagfeste Lackierung war damals vollkommen neu. Und heute bei Rädern größtenteils üblich“, freut sich der Pionier.
Impulsgeber für diese erstmals bei Centurion eingesetzte Innovation ist sein Bruder Jürgen, der diese Beschichtungsmethode vom Autobauer Daimler-Benz her kannte.
Heftig: Absturz mit Thermoshape
Um sich gegen die wachsende Konkurrenz zu behaupten, setzt Centurion Ende der Neunziger voll auf das neuartige Thermoshape-Verfahren, bei dem die Rahmenteile aus einer Art Carbon-Guss gefertigt werden sollten. Die Magstädter arbeiten eng mit dem Fraunhofer Institut zusammen. Die Partner glauben, ein Wundermaterial und ein Spritzgussverfahren gefunden zu haben, die viele Vorteile bieten: leichter, stabiler, frei formbar.
Schock bei der ersten Probefahrt: „Der Rahmen war butterweich, es gab keine Prozesssicherheit. Und wir hatten keinen Plan B“, sagt Renner plötzlich ganz leise. Obwohl er das Projekt sofort stoppt, sind bereits sieben Millionen Mark versenkt. „Es hätte fast den Ruin bedeutet. Der größte Fehler meiner beruflichen Laufbahn.“
2000: Weil seine Firma dringend eine verlässliche Fertigung braucht, gibt es Kooperations-Gespräche mit Merida, Taiwans zweitgrößtem Fahrrad-Produzenten. Ergebnis: Centurion und Merida bündeln im Rahmen eines Joint Ventures ihre Kräfte bei der technischen Entwicklung. Erstes gemeinsames Projekt: das revolutionäre LRS-System für vollgefederte Bikes.
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2001: LRS erweist sich als Hit. Die Fachpresse schreibt übereinstimmend, die einzige wirkliche Innovation der Eurobike-Messe sei das LRS-Federungssystem für MTBs, Cross- und City-Räder.
Centurion stellt sich die Frage: E-Bike ja oder nein?
Kurze Rückblende auf das Jahr 1999: Der spätere Centurion-Partner Merida präsentiert mit dem „Power Cycle“ sein erstes E-Bike. Renner erinnert sich: „Eine Eigenentwicklung, schwer, mit Bleiakku, deshalb winterempfindlich. Weil aber in Italien 8000 Einheiten in kurzer Zeit verkauft wurden, schickte ich – um die Erfolgschancen für E-Bikes hierzulande zu testen – einen Außendienstler mit drei E-Bikes auf große Deutschland-Tour. Resultat: Kein Händler wollte ein E-Bike.“
Die neue Hoffnung in der Zeit des langsam schwindenden Mountainbike-Booms waren: „Speed-Liegeräder. Über E-Bikes wurde nur spekuliert. Auch ich war kein Freund von E-Bikes“, gibt er zu. Gründe vorerst nicht auf E-Bikes zu setzen: „Das Thermoshape-Debakel, wir hatten kein Antriebssystem und für unseren Partner Merida war das Thema ein rotes Tuch. Die hatten ihr Power Cycle ad acta gelegt.“
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Centurion bandelt mit Bosch an
„Bis mich mein guter Freund Hajo überredete, daran zu glauben: Hey, die Leute wollen das. Die sind nicht so drauf wie du.“
Also greift Renner an: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion bandelt er mit Bosch an. „Die hatten mit Cannondale zwar einen bevorzugten Entwicklungspartner. Als aber Bosch hörte, dass wir ein visionäres Urbanbike konzipieren, das nicht altbacken ist, sondern sportiv und junge Zielgruppen anspricht, waren wir im Spiel.“
Meilenstein: Urbanbike mit Integration
Eurobike 2010: Centurion macht mit einem neuartigen Urbanbike Furore. Zwar konzipiert als E-Bike, aber noch ohne Motor (nicht fertig), ist das „Electric Fire“ ein visionärer Blick in die Zukunft: Rahmenintegration, heute üblich bei Premium-E-Bikes, blitzt in vielen Details auf. Etwa ein Staufach für Minipumpe, Werk- und Flickzeug zwischen dem stylischen Doppel-Oberrohr.
2011, genau ein Jahr später: Der renommierte Eurobike Award geht an das „Electric Fire“-Nachfolgemodell „E-Fire“. Weil Merida nicht mitzieht, entschließt sich Renner für einen Solo-Sprint: Und baut in Thüringen eine eigene Herstellung auf. Da das aber dauert, kann er die „scharenweise ordernden Händler“ nicht optimal beliefern.
Bald wird in Strategie-Meetings klar: Ein E-Mountainbike muss her. Gesagt, getan: Im Folgejahr steht mit dem „Backfire E.29“ Centurions erstes frontgefedertes E-MTB am Start.
Neuester Coup: E-MTB mit Tiefeinstieg
„Inzwischen gehen 70 Prozent unserer Energie in E-Bikes. Dafür mussten wir klassische Rennräder aus dem Programm nehmen“, bedauert der Ex-Radrennfahrer. Mit „E“ geht es bei den Magstädtern richtig ab: Es gibt sportive Trekkingräder, Mountainbikes mit Front- und Vollfederung, Gravel-Bikes mit Fazua-Antrieb.
2017: Centurions bislang letzter Coup entstand aus einem Zufall heraus: Renner trifft einen alten Kumpel, „der inzwischen ziemlich deutlich aus dem Leim gegangen war. Ich wusste: Für ihn wäre ein E-Bike unter Gesundheits- und Mobilitäts-Aspekten perfekt. Aber er konnte kaum aufsteigen, hatte im Rad keinen Platz. Also haben wir den Sattel abgenommen und ihn auf dem Träger sitzen lassen. So konnte er 300 Meter fahren. Und war begeistert.“ Renner reagiert: ein stabiles E-MTB mit Tiefeinstieg, das braucht die Welt. Er weiß: Das Konzept dazu liegt unter den Facharbeiten, die er wie ein Schatz hütet.
Mountainbike mit tiefem Einstieg
Als er die Dissertation von Stefan Schneider (heute führender Kopf bei Bosch) seinem Team vorstellt, „waren alle zuerst dagegen. Sie fürchteten, dass so ein Projekt unseren sportiven Markenkern beschädigen könnte.“ Dennoch fordert der Chef die Entwicklung für ein Mountainbike mit tiefem Einstieg ein. „Das sich nicht nur für Damen eignet, sondern für eine breite Zielgruppe. Modern, jung und stylisch. Ein Centurion halt.“
2018: Der MTB-Tiefeinsteiger wird zum absoluten Überflieger: „Die Händler orderten wie verrückt. Und der Renner konnte wieder mal nicht liefern. Wir hatten die Menge zu vorsichtig kalkuliert.“
Ein Erfolgsmodell, das die Endkunden begeistert, alle Mitbewerber überrascht, dann Vorbildcharakter hat und die gesamte Fahrradbranche beflügelt: Es gibt mittlerweile kaum einen Hersteller, der nicht ein oder mehrere Tiefeinsteiger-Mountainbikes im Programm hat.
Centurion-Chef will den nächsten Traum verwirklichen
Auf die Frage, was als nächstes kommt, hat Renner gewartet. Wieder einen Traum verwirklichen. Und wieder mit dem Rad den Jakobsweg machen, aber auf einer längst vergessenen Route. Und offiziell?
Demnächst will er die Entwicklungsabteilungen von Merida und Centurion zusammenziehen, „um alle E-Bike-Kategorien abzudecken. Ein Projekt, an dem die Entwicklungsabteilung bereits arbeitet, ist hier als Zeichnung zu sehen,“ sagt der Fuchs, zieht eine Facharbeit aus dem dicken Stapel, blättert sie kurz an, klappt sie schnell wieder zu. Was es ist, verrät er nicht. Noch nicht.
Mehr Informationen über Centurion erhalten Sie auf deren Website.