Selle Royal Scientia Sattellinie: Interview mit Dr. Boris Feodoroff
Selle Royal und Deutsche Sporthochschule: Die Entwicklung der Scientia Sattellinie
Selle Royal Scientia Sattellinie: Interview mit Dr. Boris Feodoroff
in Persönlichkeiten
Herr Dr. Feodoroff, für die Entwicklung der ergonomischen Sattellinie Scientia arbeiten Sie und die Deutsche Sporthochschule eng mit Selle Royal zusammen. Eine Partnerschaft, die wann ihren Ursprung fand?
Projektpartner sind wir bereits seit dem Jahr 2003, als Selle Royal gemeinsam mit der Bayer AG das Technogel (Royal Gel) entwickelte.
Zehn Jahre und ein paar kleinere Aufträge später stellten sie uns ihr Großprojekt Scientia vor: eine Sattellinie mit wissenschaftlicher Begleitung entwickeln. Ein spannender und vor allem außergewöhnlicher Forschungsauftrag.
Was machte die Anfrage so besonders?
Selle Royal drehte die Uhren quasi noch mal auf Null zurück und strebte die Entwicklung einer komplett neuen Sattellinie von der Pike auf an.
Expertise aus der Wissenschaft
Dass hierbei vom ersten Tag an Experten aus der Wissenschaft mit eingebunden werden sollten, kannte ich in diesem Umfang bis dato noch nicht. In meinen Augen war das ein richtiger und wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem optimal passenden Sattel, der mir und meinem Team zudem große Forschungsfreiheiten versprach.
Aufsatteln für die Zukunft: Zu Besuch bei Selle Royal
Heißt, Selle Royal ließ Ihnen von Beginn an freie Hand bei der Entwicklung der Studien?
Fast. Eine Vorgabe wurde uns aus dem Headquarter in Pozzoleone mit auf den Weg gegeben. Die neue Sattellinie sollte an die von Selle Royal bereits definierten drei Sitzpositionen Relaxed (Sitzwinkel 90 Grad), Moderate (60 Grad) sowie Athletic (45 Grad) angepasst werden.
Aufbauend auf dieser Grundlage vergingen drei Jahre Forschungsarbeit in Köln, bis wir den ersten Sattel in der Hand hielten.
Eine lange Zeitspanne, die mit welcher wissenschaftlichen Studie eröffnet wurde?
Zunächst stand die Ischial Variation Study auf dem Programm, mit der die Vielfalt der Sitzknochenabstände in der Bevölkerung analysiert und bestimmt werden sollte.
Keine Sattel Unterscheidung zwischen Mann und Frau
Hierfür akquirierten wir 240 Probanden (je 120 Männer und Frauen), die auf einem Hocker mit einem Gel-Pad Platz nahmen. Anschließend konnten wir den Abstand der beiden Knochenabdrücke messen und erlangten eine erste wichtige Erkenntnis, die auch Selle Royals erste Fragestellung eindeutig beantworten konnte.
Wir sind gespannt …
Nämlich die, ob es eine Unterscheidung zwischen einem Sattel für Frauen und Männer braucht. Unser Ergebnis konnte das klar verneinen. Es reicht, den gemessenen Abstand der Sitzbeinknochen zu ermitteln.
Unabhängig vom Geschlecht treten hierbei große Varianzen auf, die sich weder in je einem Abstand für Frauen und Männer noch in einer fester Formel darstellen lassen. Stattdessen ermittelten wir drei Cluster von Sitzknochenabständen, welche die aller Radfahrer abdecken.
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Sie räumten also praktisch mit dem Mythos auf, dass anatomische Unterschiede zwischen Mann und Frau eine geschlechtlich bedingt unterschiedliche Druckverteilung im Schambereich zur Folge haben?
Um dieser wichtigen Thematik auf den Grund zu gehen, erhoben wir mit 35 Männern und 31 Frauen unsere Gender Study. Wir spannten eine druckempfindliche Folie mit 64 Sensoren auf einen Sattel mit neutraler Formgebung, auf einem stationären Fahrrad fuhren die Probanden in drei verschiedenen Sitzpositionen (30, 45 und 60 Grad Sitzwinkel).
Datenerhebung und Kartierung
Auf 90 Grad verzichteten wir, da in dieser Position kein Druck auf den Schambereich ausgeübt wird. Die daraus erhobenen Daten (Maximal und Durchschnittsdruck in mbar) wurden anschließend kartiert. Mit dem Ergebnis, dass wir lediglich in der sportlichen 30-Grad-Position einen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellen konnten.
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Wichtige Erkenntnisse und Neuheiten, die Sie nach Norditalien überbringen konnten. Wie wurden diese dort aufgenommen?
Für Selle Royal waren das Studienergebnisse, die sicherlich entscheidenden Einfluss auf strategische Weichenstellungen bei der Produktentwicklung hatten.
Als beauftragter Forschungspartner tauschten wir uns ohnehin regelmäßig mit Designern und Mitarbeitern aus dem Marketing aus. Welche Forschungsfragen werden derzeit untersucht? Was sind die Erkenntnisse? Alles das besprachen wir mal per Videokonferenz oder vor Ort in Italien.
Blicken wir auf die dritte Studie, die sogenannte Shape Study. Der Name lässt vermuten, dass es bei ihr um die wissenschaftlichen Grunddaten für die konkrete Gestaltung der Sattel-Modelle ging.
Das kann man so sagen. Im dritten und letzten Forschungsteil setzten wir uns die Bestimmung der optimalen Formgebung für die Scientia-Modelle unter Berücksichtigung sowohl weiblicher als auch männlicher Nutzer zum Ziel.
Testfeld mit zahlreichen Probanden
Auch hier kam unsere druckempfindliche Folie zum Einsatz, als 35 männliche sowie 31 weibliche Probanden insgesamt 27 unterschiedliche Sättel testeten.
Wieder in Selle Royals drei vordefinierten Sitzpositionen Relaxed, Moderate und Athletic. Anhand vier verschiedener Parameter analysierten wir die Sättel und stellten ein Ranking auf. Gemessen wurde der maximale und durchschnittliche Druck im Schambereich und die dort genutzte Fläche sowie des gesamten Sattels.
Erkenntnisse der Deutschen Sporthochschule Köln
Die Ergebnisse dieser Studie wiesen eindeutig darauf hin, dass es für jede Sitzposition spezifische Geltungsmerkmale der Sattelnase, des Profils, des Heckbereichs und der Seiten gibt, die bessere Druckverteilung bieten als andere. Fortan konnte Selle Royal die optimale Form für jeden seiner neun Sättel der Scientia-Linie definieren, indem sie die drei Sitzpositionen sowie den Sitzknochenabstand größer elf, elf bis 13 sowie über 13 miteinander kombinierten.
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In Italien konnte nun auf Basis Ihrer Studien mit der Sattel-Produktion der Scientia Liniebegonnen werden. Wie bringt sich die Sporthochschule Köln seither über die reine Forschungsarbeit hinaus bei der Scientia-Linie mit ein?
In der Praxis, außerhalb von Laborstudien, werden wir von Selle Royal in die Schulungen von Fachhändlern mit eingebunden. In die Forschungsarbeit involvierte Mitarbeiter vermitteln unsere Erkenntnisse und geben Beratungshinweise.
Zusammenarbeit mit Selle Royal
Mit dem Ziel, dass unsere Ergebnisse über den Verkäufer an den Kunden weitergegeben werden. Selle Royal ist mir in all den Jahren unserer Zusammenarbeit auch diesbezüglich sehr professionell aufgefallen.
Keine Frage, sie profitieren vom engen Austausch mit dem Fachhandel und daraus gewonnenem Feedback wiederum in Bezug auf die eigene Produktentwicklung. Welche die Deutsche Sporthochschule Köln auch zukünftig intensiv begleiten wird.
Und wie finden Radfahrer/-innen in Zukunft, auch dank Studien wie Ihrer, den perfekt passenden Sattel am einfachsten?
Die Forschungsergebnisse unserer Arbeit helfen Herstellern wie Selle Royal, ihre Produkte immer weiter zu optimieren. Ob ein Sattel perfekt zu mir, meiner Sitzposition und Anatomie passt, wird aber weiterhin erst das Ausprobieren über mehrere Tage auf dem Fahrrad zeigen.
Probefahren bleibt unersetzlich
Nicht selten haben die Probanden unserer Studie vier bis fünf Sättel getestet und waren immer noch nicht zufrieden. Die noch so perfekt ausgelegteste Studie ersetzt das Probefahren nicht. Aber: Sie kann die Erfolgschance bei der Suche nach dem perfekten Sattel maßgeblich erhöhen.