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Radurlaub in Estland: Viel Natur und Geschichte im Baltikum

Radurlaub: Estland mit dem Fahrrad entdecken

Radurlaub in Estland: Viel Natur und Geschichte im Baltikum

Estland ist die kleinste der drei Balten-Republiken – und deshalb wie geschaffen für einen Radurlaub, weil es sich auch mit nicht so viel Zeit im Wortsinn bestens „erfahren“ lässt. Ein Höhepunkt sind Radtouren an den Stränden der Ostsee-Küste.
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Man schrieb die Jahre 800 bis 1200 vor Christus, als sich die Wikinger an der Ostsee Schlachten lieferten, an denen auch die estnischen Nordmänner beteiligt waren.

Einer dieser Recken muss wohl ein Vorfahre von Karol Pärn gewesen sein. Denn der 28-Jährige sieht genauso aus, wie man sich die Helden aus „Wickie und die starken Männer“ vorstellt: 203 Zentimeter lang, gut 100 Kilo schwer, Pranken wie einer der 700 Braunbären, die Estlands Wälder bevölkern.

Radurlaub: Durch die Geschichte Estlands

Aber trotz seines Gardemaßes wird sich Karol gleich nasse Füße holen. Denn der kleine Bach, der hier in die Ostsee fließt und den wir überqueren müssen, führt einfach zu viel Wasser. Macht nichts, denn vollgelaufene Schuhe sind bei 26 Grad und Sonnenschein kein Problem.

Immer der Küste entlang

Wir sind unterwegs im Laheema-Nationalpark, etwa 70 Kilometer östlich der estnischen Hauptstadt Tallinn. Unsere Radurlaub Route ist von der Natur vorgegeben: immer der Küste entlang, wenn möglich direkt dort, wo Wasser auf Land trifft.

Die Natur in Estland lädt zu abenteuerlichen Radurlauben ein.

„Fatties“ sind dabei die Räder der Wahl, denn mit den dicken Reifen „verhungert“ man nicht im mitunter tiefen Sand. Und auch sonst stecken die „Big Boys“ so einiges klaglos weg.

Doch auch mit E-Mountainbikes kann man sich in Estland optimal fortbewegen. Für entspanntes „Sightseeing by Bike“ sind das beste Voraussetzungen. Und man muss auch kein Konditions-Monster sein, denn Estland ist über weite Strecken flach wie eine Flunder.

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Vor allem aber ist es dünn besiedelt. „Meine Heimat ist kaum größer als die Niederlande“, erzählt Karol. „Doch dort leben 14 Millionen Menschen, bei uns gerade einmal ein Zehntel davon.“ Soll heißen: Da ist noch viel Platz für Wildnis.

Die Hälfte des Landes ist von Wald bedeckt, ein Fünftel von Mooren und Sümpfen, durch die sich Bäche und Flüsse schlängeln.

Erster Nationalpark der Sowjetunion

Durch den Laheema-Nationalpark streifen Elche, Luchse, Nerze und Biber, fliegen seltene Vogelarten wie Fisch-, Stein-, Seeadler und Schwarzstörche. Sogar eine der letzten Kolonien der Flussperlmuschel in den baltischen Staaten ist hier noch heimisch.

Das liegt daran, dass die Region bereits 1971 erster Nationalpark der Sowjetunion wurde, zu der Estland damals unfreiwillig gehörte.

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Elche wird man am Unterlauf der Keila nicht entdecken – dafür ist der Park rund um Schloss Fall zu beliebt bei Ausflüglern.

Den mit einem kommunistischen Feigenblatt getarnten neuen „Zaren“ in Moskau ging es dabei nicht primär um Naturschutz, wie Karol erklärt. Das „freie“ Finnland, dem sich die Esten kulturell und sprachlich eng verbunden fühlen, liegt nämlich gleich auf der anderen Seite des gleichnamigen Meerbusens.

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Die UdSSR machte deshalb weite Teile der Küste zum Sperrgebiet. Zum einen, um die Flucht übers Meer zu verhindern. Zum anderen, um hier ungestört forschen zu können. „Komm mit, ich zeig dir etwas“, sagt Karol und schwingt sich auf sein Rad.

Streng geheim

Kurze Zeit später klettern wir in die oberen Stockwerke einer riesigen Ruine. Die Wände sind mit Graffiti bemalt, auf dem Boden liegen Elektroschrott und Müll. „Was war das einmal?“, frage ich Karol.

„Hier wurde studiert, wie sich U-Boote entmagnetisieren lassen, um sie für das feindliche Radar unsichtbar zu machen. Die Werft dafür befand sich einige Kilometer entfernt am Meer“, erklärt mein Guide.

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Picknick auf der Insel Mohni, Sauna mit Freunden oder Pause am Strand – die Esten wissen, wie man es sich gutgehen lässt.

„In der ganzen Sowjetunion gab es nur zwei solcher streng geheimen Anlagen.“ Wir kurbeln weiter zur ehemaligen Wohnstadt der Militärs, tief versteckt im Pinienwald. „Hier lebten mehr als tausend Menschen. Sie waren privilegiert, hatten Schulen und Schwimmbäder, Zugang zu begehrten Lebensmitteln.“

Nach dem Zerfall der Sowjetunion zogen die Rotarmisten ab und Zivilisten in die Wohnblöcke ein.

Scharfer Kontrast

Die Überbleibsel aus der UdSSR-Zeit bilden einen scharfen Kontrast zu den hübschen, skandinavisch anmutenden Ferienhäuschen und den prachtvollen Gutshöfen der früher hier lebenden Deutsch-Balten. Der bekannteste ist Palmse, mitten im Nationalpark gelegen und der erste komplett renovierte Landsitz Estlands.

Hier wurde alles saniert: Parks, Gärten und natürlich die historischen Gebäude. Für Besucher gibt es ein Hotel samt Restaurant, Ausstellungen und Workshops – der perfekte Ort, um sich von einer langen Radtour zu erholen.

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Schilf-Dschungel und enge Brücken – Estland ist zwar flach, hält aber dennoch Herausforderungen für Radler bereit.

Ganz nebenbei lernt man auf so einem Gutshof viel über die estnische Geschichte. Jahrhundertelang war das Land fremdbeherrscht, musste es um seine Identität kämpfen.

Hanse Wirtschaftsmotor im 19. Jahrhundert

Im 13. Jahrhundert kamen die Dänen an die Küste und bauten eine Festung. Es dauerte nicht lange, bis sich deutsche Kaufleute unterhalb der Burg niederließen und Reval gründeten, die heutige Hauptstadt Tallinn. Lange Zeit galt Lübecker Recht. Im 19. Jahrhundert stammte die Hälfte der Tallinner von Deutschen ab, die Hanse war der wirtschaftliche Motor.

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Dann, im November 1944, verleibte Stalin das nördlichste der baltischen Länder der Sowjetunion ein. Er siedelte 200.000 russische Arbeiter im Norden Estlands an, um die Industrialisierung voranzutreiben. Heute sind 40 Prozent der Bevölkerung Russen. Nicht wenige Esten begegnen ihnen mit kühler Distanz.

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Ein Bootsausflug – ohne Rad – auf die Insel Mohni (rechts) ist ein Muss; ein Bummel durch die Altstadt von Tallinn ebenfalls.

Zu beunruhigend ist Putins Politik in der Ost-Ukraine. Sie sehen die nach der „singenden Revolution“ 1991 wiedererrungene Unabhängigkeit in Gefahr.

Estland: Sanfter Tourismus

Von all dem merkt man freilich nichts, wenn man die Küste mit dem Bike entlang radelt. In den vergangenen Jahren wurde verstärkt in den sanften Tourismus investiert. In den Küstenorten entstanden neue Ferienquartiere.

So kaufte der in Viinistu geborene estnisch-schwedische Geschäftsmann und Kunstmäzen Jaan Manitski 1998 die bankrotte Fisch-Kolchose des 170-Einwohner-Ortes. Im Jahr 2002 eröffnete er in den renovierten Gebäuden das private Kunstmuseum Viinistu. Daneben ließ Manitski das alte Kesselhaus der Kolchose zu einem Konzertsaal umbauen, finanzierte ein Sommertheater und ein Hotel.

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Vom kleinen Hafen des ehemaligen Fischerdorfes aus unternehme ich mit Karol einen Bootsausflug auf die vorgelagerte Insel Mohni mit ihrem überregional bekannten Leuchtturm. „Die Leute hier lebten primär von der Fischerei, aber eben auch vom Alkohol-Schmuggel nach Finnland, wo die Prohibition galt“, erklärt mein Begleiter.

Besonders nach dem Ersten Weltkrieg seien es deutsche Flaschen gewesen, die über Memel nach Estland gelangten und via Mohni verschoben wurden. 1924 schlossen Schweden, Finnland und die baltischen Staaten dann einen Vertrag ab, der den Handel mit Alkohol auf der Ostsee untersagte.

Esten lieben die Sauna

Nach einem ausgiebigen Sauna-Abend, der für die Esten fast so wichtig ist wie für die Finnen, kurbeln wir anderntags zum nördlichsten Punkt des Landes, einer kleinen Landzunge, umspült von der Ostsee.

Mit den Fatbikes geht das problemlos, dieses Mal sogar ohne nasse Füße. Als uns das Fahren im weichen Strand zu beschwerlich wird, weichen wir in den harzig duftenden Pinienwald dahinter aus, wo tolle Weglein durch das Baum-Labyrinth führen, enge und technische, oder weite und bequeme – für jeden Geschmack, für jedes Können ist etwas dabei auf dieser gigantischen Spielwiese mit den XL-Granitblöcken, die die letzte Eiszeit hier hinterließ.

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Die Esten lieben das Saunieren – und kulinarische Genüsse.

Bei einer Rast stärken wir uns mit selbstgepflückten Heidelbeeren. Sammeln Pfifferlinge für das Abendessen. Bestaunen die an Runen erinnernden Familien-Symbole an den Häusern, die auch die Fischnetze zieren, um stets zu wissen, wem sie gehören und wer gerade auf hoher See unterwegs ist.

Auf dem Weg nach Kaberneeme, berühmt für seinen schönen Sandstrand und nur noch 30 Kilometer von Tallinn entfernt, manövrieren wir durch private Gärten und hieven die Räder über Zäune, weil immer mehr Hauptstädter hier Ferienhäuser gebaut haben.

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Tallinn: Blick vom 140 Meter hohen Stadthügel auf Altstadt und Hafen.

Das Gesetz sagt zwar, der Zugang zum Meer müsse frei bleiben. Aber wie das genau aussieht, das ist Auslegungssache. Ein Hund bellt, macht auf dicke Hose. Kinder spielen im Sand. Wir cruisen an Strandjoggern und Sonnenanbetern vorbei, die ihre hellen Körper von der Sonne röten lassen.

Staunen über die luxuriösen Villen, die sich hier die oberen Zehntausend von Tallinn gegönnt haben, samt Jachten und dicken Autos.

Die leisen Töne

Einen weiteren Tag später sind wir bereits westlich von Tallinn unterwegs, nahe Laulasmaa, wo schon um die Wende zum 20. Jahrhundert erste Strandhäuschen gebaut wurden. Das hier ist das Revier von Keidi und ihrer Rad-Gang. Wieder geht es durch duftenden Pinienwald, bis wir an senkrecht abfallenden Klippen den Blick auf die Küstenlinie genießen.

Auf dem Rückweg lotst uns Keidi zum bekannten Keila-Wasserfall, neben dem sich das aufwändig restaurierte Herrenhaus von Keila-Joa (deutsch: Schloss Fall) befindet, das erste Gebäude des Historismus in Estland.

Estland: Mehr als Geschichte und Natur

Das Schloss ist von einem der schönsten Parks des Landes umgeben, den wir mit den Rädern erkunden, dabei über Hängebrücken balancieren und über die vielen Vorhängeschlösser staunen, die Brautpaare hier als Glücksbringer hinterlassen haben.

Auch heute steigt eine Hochzeit. Die Esten lieben ja die leisen Töne, sind meist zurückhaltend, ja eigenbrötlerisch. Heute jedoch wollen sie ganz offensichtlich heftig feiern. Von einer Parkbank aus beobachten wir die ausgelassene Prozession. Keidi grinst nur und sagt: „Estland hat eben doch mehr zu bieten als nur Geschichte und Natur.“

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