Critical Mass Nürnberg: Das lange Nachspiel der Fahrrad-Aktionsform
Das lange Nachspiel einer Critical Mass in Nürnberg
Critical Mass Nürnberg: Das lange Nachspiel der Fahrrad-Aktionsform
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Thomas Huber ist einer von ihnen. Einer der Radfahrer, die am 31. Juli 2020 auf die Rechte gegenüber dem Autoverkehr, im Rahmen einer Critical Mass, aufmerksam machen – und für gesunde und CO2-freie Fortbewegung werben wollen.
Unter dem Namen Critical Mass bekannt, genießt die weltweite Aktionsform auch in Nürnberg stets rege Teilnahme. In Zeiten von Corona jedoch auch zunehmend Gegenwind aus der Stadtverwaltung sowie dem Ordnungsamt und der Polizeidirektion Mittelfranken.
Am besagten Freitag im Juli steht Huber mit seinem Fahrrad auf dem Gehweg an der Ingolstädter Straße, in einer Kleingruppe Gleichgesinnter. „Dann brach dieses Geschehnis über uns hinein“, erinnert sich der 55-Jährige zurück, als plötzlich zwei Polizeibusse vor ihm in V-Formation anhielten, sich die Türen öffneten und schwarz gekleidete Beamte ausstiegen.
„Stehen bleiben, Personenkontrolle!“, so die lautstarke Anweisung, bevor die Radfahrer vor die Wahl gestellt wurden: Luft aus den Reifen raus oder Fahrrad weg.
Polizei sorgt für Irritationen
„Etwas konkret vorgeworfen haben sie uns gar nichts, wir sind einfach nur auf Radwegen geradelt“, rekonstruiert Huber das Aufeinandertreffen. Später wächst in ihm die Vermutung, dass sie schlichtweg „willkommene Opfer“ gewesen seien. Einfach zu greifen, die Fahrräder neben sich stehend.
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Irritiert, fassungslos und mit platten Reifen wird anschließend das Wochenende eingeläutet. Und in den darauffolgenden Tagen eine schriftliche Dienstaufsichtsbeschwerde bei der Polizeidirektion Mittelfranken eingehen.
Ebenfalls vor Ort an jenem Freitag war der Nürnberger Stadtrat und verkehrspolitische Sprecher der Grünen Stadtratsfraktion Mike Bock. Mit Fahrradanhänger und seinen Kindern im Schlepptau.
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„Es war zu befürchten, dass die Polizei versuchen werde, die Critical Mass zu unterbinden“, berichtet Bock und spielt auf eine Pressekonferenz von Stadtspitze gemeinsam mit der Polizei zwei Tage zuvor an, auf der ein Katalog zu erfüllende Auflagen für den Veranstalter im Themenzentrum gestanden hatte.
Der Sinn und Zweck der Critical Mass bestehe laut der Initiatoren allerdings vor allem in seiner „Selbstorganisation und Schwarmintelligenz“ ohne vorab geplante Fahrstrecke und Veranstalter.
Der Starschuss sollte am Richard-Wagner-Platz fallen, der bereits vor 18 Uhr abgeriegelt wurde. Bock radelte schließlich in einer Kleingruppe. Beobachtete, wie ein Polizist einen Radfahrer während der Fahrt vom Rad zu ziehen versuchte.
Wenig später wurde er Augenzeuge von Thomas Hubers Erlebnissen an der Ingolstädter Straße. Sein Versuch, das Luftablassen in Bewegtbild festzuhalten, wurde unterbunden – unter Androhung von strafrechtlichen Konsequenzen.
Unterschiedliche Sichtweisen
Einiges an Zündstoff also, das sich am Abend des 31. Juli in der Nürnberger Innenstadt miteinander vermengt hatte. Und der Beginn einer Aufarbeitung, die seine Kreise immer weiter ziehen sollte.
Angefangen von einer Stellungnahme des Polizeipräsidiums Mittelfranken, die sich im ersten Schritt auf das „Unterbinden einer nicht angemeldeten Veranstaltung“ beruft, der zudem kein Infektionsschutzkonzept zu Grunde gelegen hätte.
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Das große Unverständnis von Bock und Huber biegt jedoch ein paar Zeilen später um die Ecke, in denen „rücksichtslose Fahrweise“ sowie „Rotlicht- und Vorfahrtsverstöße“ angeprangert werden. „Das ist absurd und die Unwahrheit“, stellt Huber klar, während die Polizei das Luftablassen aus den Reifen von elf Fahrrädern als „ungewöhnliche Maßnahme“ bewertet.
Vom „geringsten Eingriff in die Rechte der uneinsichtigen Betroffenen“ ist im Polizeipräsidium die Rede, während sich Huber und Bock eher mit Sprach und Fassungslosigkeit über die Art der Aufarbeitung konfrontiert sehen.
Polizei verspricht Aufklärung
Zweitgenannter findet seine Stimme in der Folgezeit jedoch schnell wieder und erhebt sie in seiner Funktion als verkehrspolitischer Sprecher der Grünen Stadtratsfraktion. Mitte September tritt er auf der Sitzung des Ausschusses für Recht, Wirtschaft und Arbeit mit dem leitenden Polizeidirektor Hermann Guth in den Dialog.
Gemeinsam mit der Stadt Nürnberg sei der „zurechtgelegte Grundton“ durchweg der gewesen, dass stets die Sicherheit der Teilnehmer im Fokus gestanden hätte.
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„Sollte es vereinzelt zu Fehlverhalten der Beamten gekommen seien, werde man das intern lückenlos aufklären“, lautete das immer wiederkehrende Statement auf Bocks Antwortgesuch, dessen Hoffnung auf konsequente Aufarbeitung im Minimalbereich angesiedelt ist. Denn: auf besagte Spurensuche würde ausschließlich die Polizei selbst gehen.
In der Zwischenzeit schritten die Tage im Kalender Stück für Stück voran – bis zum 28. August. Dem nächsten letzten Freitag eines Monats. Eine vorherige Anmeldung der diesmaligen Critical Mass beim Ordnungsamt: abermals Fehlanzeige.
Ebenso die Konfrontation von Radfahrern und Polizeibeamten. Man habe vielleicht selbst gemerkt, Ende Juli über die Stränge geschlagen zu haben, vermutet Bock. Die Polizei selbst spricht anschließend von einer „vollkommen friedlichen und störungsfreien“ Tour der rund 300 Teilnehmer durch die Frankenmetropole.
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Mit ein Grund dafür sollen Gespräche im Vorfeld gewesen sein. Zwischen Fahrrad-Aktivisten sowie Vertretern der Stadt und Polizei. Erstmals soll ein zweiter Abfahrtsort, statt wie sonst üblich ein zentraler, vorab bekannt gegeben und auf der Internetplattform zur Wahl gestellt worden sein.
Friedliches Wiedersehen
Harmonisch sei das Miteinander laut Bock an diesem Augustfreitag gewesen. Fast ein bisschen trügerisch – oder ein
Schuldeingeständnis der Polizei mitschwingend?
Auch die Stadt hat mittlerweile Verständnis für das Dilemma der
Critical Mass geäußert, keine Organisation, sondern nur eine lose Gruppierung sein zu wollen. Bock sieht darin eine „gute Grundlage“ für die Zukunft.
In die Vergangenheit blickt der 41-Jährige hingegen weiterhin mit großer Ernüchterung. Eine seriöse Aufklärung der Juli-Vorfälle sei weiterhin nicht erkennbar. Mittlerweile hat er ein Schreiben mit dem Ergebnis der internen Ermittlungen erhalten. Ein Fehlverhalten der Polizei konnte nicht ausgemacht werden. Für Bock ebenso erwartbar wie „schwach“.
Auch die Signalwirkung sei fatal, dass diese Maßnahme gegen Radfahrer gebilligt werden würde – und Schule machen könne.
Hoffnung auf Eingeständnis
„Man könnte einfach eingestehen, dass im Eifer des Gefechtes eine unbeteiligte Gruppe erwischt wurde“, gibt er verbale Brückenvorschläge, um unter den 31. Juli endlich einen halbwegs versöhnlichen Schlussstrich ziehen zu können.
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Abgehakt hat auch Thomas Huber die Vorkommnisse noch nicht. Außerdem ist er weiterhin sehr auf das Ergebnis seiner Dienstaufsichtsbeschwerde gespannt. Hier würde er sich Ähnliches wie Ende August wünschen.
Eine Kooperationsbereitschaft der Polizei, die er in der Form bei einer Critical Mass noch nie wahrgenommen hatte. Und außerdem fehle ihm vor allem noch eines: eine Entschuldigung. Für etwas, das er an jenem Freitag durchaus als Sachbeschädigung empfunden hat.